13. Oktober 2017
Wählen oder Nichtwählen, das ist hier die Frage. Der Souverän betritt die Wahlkabine, um sein Kreuz zu schlagen. Eine Glosse
Auf Twitter habe ich neulich den bezeichnenden Kommentar gelesen: "Was habt ihr gewählt, als die Nazis wieder in den Bundestag eingezogen sind?" Ein Wahnsinns-Pathos, das eine 1:1 Gleichsetzung von Wahlen = Demokratie macht. Das ist vergleichbar mit einer mathematischen Formel wie "Wissenschaft = Bildung" oder "Kirche = Christentum".
So lobe ich mir das. Meine Fantasie wird beflügelt. Denn an dem Kreuz hängt die Welt, das wussten schon die Menschen im Mittelalter. Ich würde auch gern mein Kreuz nicht schlaff sitzend mit einem Kugelschreiber machen, sondern die Wahlkabine in voller eiserner Ritter-Rüstung betreten wollen. Ritter der Sozialen Gerechtigkeit. In der linken Hand ein großes ehernes Schild mit dem Bundesadler als Wappen und der aufwendigen Gravur "Der Souverän".
In der rechten Hand das riesige Schwert der Entscheidung, zweischneidig natürlich, denn es gibt ja zwei Stimmen. Das Schwert besteht aus ziseliertem Silber, denn Reden ist Silber und Schweigen ist Gold. Aber an diesem historischen Tag im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wird nicht geschwiegen.
Vater unser Staat, geheiligt werde dein Name...
Und dann stapfe ich, nein "schreite" vielmehr erhobenen Hauptes in den Saal der Wahl. Finster blicke ich durch das geschlossene Helm-Visier die potentiellen AfD-Wähler an, die sich nazihaft ordentlich in die Warteschlangen eingereiht haben und mit einem unritterlichen Federkiel ihre Untat des Jahrtausends begehen. Und dann komme ich an die Reihe...
Der sakrale Akt des Abstimmens beginnt. Vor dem Kreuz machen, bekreuzige ich mich noch selbst. "Vater unser Staat, geheiligt werde dein Name. Deine Wahl komme, dein Versprechen vergehe. Wie im Parlament, so auf der Straße. Unser täglich Gebot gib uns heute. Und vergib uns unsere Geduld, wie auch wir vergeben unseren Geduldigen. Und führe uns nicht in Vertuschung, sondern erlöse uns von dem Dösen. Denn dein ist der Staatsstreich und die Macht und die Beschwerlichkeit in Mäßigkeit. Amen"
Die heilige Wahl-Schrift und das Schwert
Nach diesem Gebet bitte ich einen Knappen die Heilige Wahl-Schrift vor mir hochzuhalten, damit ich zum gewaltigen Streich mit dem Schwert ausholen kann. Nur für eine Sekunde hebe ich kurz das Visier, um das Ziel anzupeilen: die Partei, die ich mit meiner Stimme ergreifen will.
Das Volk im Saal hält plötzlich inne und schaut mir schwitzend in Zeitlupe zu, wie ich mit einer gewaltigen Bewegung mit donnernd klappernder Metall-Rüstung mit dem ziseliertem Schwert, zuerst von rechts oben nach links unten und dann mit der anderen Schneide von links oben nach rechts unten, ein ungeheures Kreuz ins Papier schlage, dessen Mittelpunkt mit chirurgischer Kriegsführung exakt die von mir erwählte Partei trifft.
SLAASH, SLAASH - - - Noch ehe ich überlegen kann, zum erneuten Streich für das zweite Kreuz auszuholen, sehe ich, wie langsam die feinen Linien dieses sauberen Schnittes größer werden und die Heilige Wahl-Schrift in vier Teilen zu Boden sinkt. Augenblicklich löst sich die Anspannung im Saal und das Wahlvolk wendet sich wieder seinen Federkielen und Warteschlangen zu. Mehrere schütteln verächtlich den Kopf und einer spricht für alle hörbar aus: "Du hast deine Stimme ungültig gemacht, du Nerd!"